Spiegel Interview on Turkey (in German) – Gerald Knaus September 2016

“Totales Misstrauen”

Interview Gerald Knaus für Der Spiegel

Das Interview ist hier: Spiegel Spezial “Brennpunkt Türkei” – 1/2016

Ausschnitt:

Spiegel: Die Türkei ist extrem enttäuscht darüber, dass kein europäischer Spitzenpolitiker das Land nach dem Putschversuch Mitte Juli besucht hat.  Zurecht?

Knaus: Ja. Wenn der deutsche oder der französische oder der italienische Außenminister, am besten alle drei gemeinsam, in den Tagen nach dem Putsch gekommen wären, das Parlament besucht hätten, ins Spital gegangen wären, etwa den türkischen Botschafter in Deutschland, Avni Karslıoğlu, der ja von den Putschisten verletzt wurde, besucht hätten – dann wäre das ein wichtiges Signal der Unterstützung für die Demokratie gewesen. Dann wären auch Ratschläge, bei der Bewältigung der Putschfolgen nicht über das Ziel hinauszuschießen, heute glaubwürdiger. Das Misstrauen der Türkei, das es schon nach der schwachen europäischen Reaktion auf den Militärputsch in Ägypten gab, hat sich durch die Abwesenheit von hochrangigen Besuchern aus Europa noch verstärkt. Und viele Türken in allen politischen Lagern vermuten, das Ausland habe entweder auf den Erfolg der Putschisten gehofft, oder sie vielleicht sogar unterstützt. Da dies bei Putschen in der Vergangenheit – 1960, 1980 – tatsächlich der Fall war, fallen solche Theorien in der Türkei auf fruchtbaren Boden.

SPIEGEL: Was sollte Europa jetzt tun?

Knaus: Die EU sollte unbedingt an der Position festhalten, dass eine rechtsstaatliche Türkei ein sehr wichtiger Partner wäre. Sie sollte aber auch klare rote Linie ziehen die für alle Beitrittskandidaten gelten – das hat Brüssel bei der Todesstrafe gemacht, und es sollte auch für systematische Folter gelten, die man in keinem Europaratsmitglied tolerieren darf. Wir sollten nicht sagen, es ist hoffnungslos, wir geben auf, oder uns gar der Illusion hingeben, man könnte a la Trump, auf dem Balkan eine Mauer bauen und hinter der fänden in der Türkei dann Dinge statt, um die man sich nicht kümmern müsste. Gleichzeitig kann man den Beitrittsprozess, so wie er jetzt strukturiert ist, auch nicht einfach weiterführen ohne Änderungen. Verhandlungskapitel öffnen, ohne dass irgendetwas passiert, nährt nur Zynismus, in der EU und in der Türkei.  Die EU müsste den Zustand der Justiz, und konkrete Prozessbeobachtungen, in das Zentrum ihrer Arbeit stellen. Denn was die Türkei am meisten braucht, ist ein Ausweg aus einer Welt des totalen Misstrauens, wo jeder immer nur einen Schritt vom Gefängnis entfernt ist.

SPIEGEL: Der österreichische Bundeskanzler hat den Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert. War das ein Fehler?

Knaus: In diesem Moment auf jeden Fall. Erstens gibt es dafür in der EU keine Unterstützung, aus vielen guten Gründen. Man zweitens sollte man den Menschen in der Türkei, die sich weiterhin für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzen, zeigen, dass die EU nach wie vor daran interessiert ist was dort passiert.

SPIEGEL: Kann das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei angesichts der politischen Krise noch aufrechterhalten werden?

Knaus: Es gibt in Ankara weiterhin den Willen, daran festzuhalten, allerdings ist es schwieriger geworden, für beide Seiten. In der Türkei fragt man sich, wie die EU in dieser Situation eine Veränderung des Antiterrorgesetzes fordern kann. Und in der EU fragt man sich, wie man in dieser Situation die Visa-Freiheit einführen kann. Das wurde leider zu einer Frage der Würde stilisiert, als ob die EU ihre Werte verraten würde, wenn die Türkei nur 70 von 72 Forderungen erfüllt, die die EU am Beginn der Verhandlungen aufstellte. Es geht hier um Verhandlungen, wo beide Seiten Interessen haben. Als Serbien oder  Mazedonien Visafreiheit erhielten stellte die EU nur 45 Bedingungen. Vor allem aber: wem würde es nützen, wenn man jetzt die Visa-Liberalisierung vom Tisch nähme, dann die Türkei das Rücknahmeabkommen aufkündigt und dann das Flüchtlingsabkommen scheitert? Würde das der EU und ihrem Einfluss in der Türkei helfen, oder Menschenrechtsaktivisten dort? Was bedeutet es für Griechenland und Bulgarien? Bei einem Scheitern verlieren alle. Das ist keine kluge Politik.

SPIEGEL: Erdoğan hat mehrmals damit gedroht, das Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen, falls die Visa-Freiheit nicht bis Oktober kommt. Wie glaubhaft ist diese Drohung?

Knaus: Das Problem ist, dass in der EU missverstanden wird, was wir von der Türkei im Gegenzug für die Visaliberalisierung wirklich verlangen sollten. Damit das Flüchtlingsabkommen funktioniert, muss die Türkei zu einem nachweisbar sicheren Drittstaat werden für all jene, die jetzt auf den griechischen Inseln festsitzen. Wir brauchen nicht nur die erklärte Bereitschaft der Türkei, jene zurückzunehmen, die die Griechen schicken. Ankara muss auch klarstellen, dass dort, wo diese Flüchtlinge hingebracht werden, glaubwürdige Asylprozesse mit qualifizierten Asylbeamten, mit Übersetzern und mit transparenten Entscheiden und fairen Bedingungen existieren. Wenn das nicht klappt, wird Griechenland nie einen Asylantragsteller zurückschicken können. Dann verwandelt sich das Abkommen von selbst vom Merkel-Plan in einen Orbán-Plan, wo nur ein Element übrigbliebe, nämlich das unbegrenzte Festhalten von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln. Das ginge aber höchstens noch ein paar Wochen gut. Man braucht Anstrengungen in der Türkei etwas aufzubauen, was auch in manchen EU-Mitgliedsländern nicht existiert, nämlich schnelle und glaubhafte Asylverfahren. Das muss sofort passieren. Man sollte der Türkei durchaus Bedingungen stellen, und diese mit der Visa-Liberalisierung verknüpfen, es müssten nur die richtigen sein.

SPIEGEL: Bislang wurden auch, anders als versprochen, so gut wie keine Flüchtlingen aus der Türkei nach Europa umgesiedelt. Warum nicht?

Knaus: Die EU und die Türkei sollten anerkennen, dass in den letzten Monaten die Zahl der Ankommenden in der Ägäis so stark zurückgegangen ist, dass man mit der freiwilligen Umsiedlung von Flüchtlingen jetzt beginnen müsste. Und dass die erste Phase, in der man das unselige Austauschprogramm hatte, wo für jeden zurückgeschickten Syrer ein Syrer aufgenommen werden sollte, beendet ist. Wenn man allerdings dazu übergehen will, eine größere Zahl von Flüchtlingen umzusiedeln, dann zeigt sich, dass die Verwaltungen auch in den bestorganisierten Ländern gar nicht drauf eingestellt sind. Auch nicht in der Türkei.  

SPIEGEL: Man müsste diese Verwaltungen also erst aufbauen?

Knaus: Genau. Wenn die EU 100 000 Leute oder mehr im nächsten Jahr aus der Türkei umsiedeln will, dann muss das jemand organisieren. Denn man muss die Identität der Leute feststellen, Sicherheitsüberprüfungen machen und glaubwürdig zeigen, dass man bereit ist, die Leute aufzunehmen. Wenn man diesen Apparat nicht aufbaut, dann zeigt man, dass dieses Versprechen nicht ernst gemeint ist. Dabei gibt ja sicherlich zehntausende Flüchtlinge allein in der Türkei, die als Verwandte von bereits in Europa lebenden Asylantragstellern oder Flüchtlingen eine enorme Motivation und auch das Recht haben, einen Weg zu ihren Angehörigen zu finden, der nicht über die Ägäis oder über Schlepper führt.

SPIEGEL: Die griechische Regierung sagt, Europa brauche in der Flüchtlingskrise einen Plan B. Wie könnte der aussehen?

Knaus: Es gibt ja bereits eine Art Plan B, der bei immer mehr europäischen Regierungen auf Sympathie stößt, der allerdings um vieles aufwendiger, unsicherer und teurer wäre als das bestehende Abkommen umzusetzen. Davor warnt auch UNHCR eindringlich. Es ist der alte Plan von Viktor Orbán: eine australische Lösung, die darauf setzt, dass Flüchtlinge die EU zwar erreichen können, aber dann dort festgehalten werden, ähnlich wie das Australien auf der Pazifik-Insel Nauru macht. Der österreichische Aussenminister hat in den vergangenen Wochen immer wieder davon gesprochen, dass man von der australischen Erfahrung lernen könne, er hat allerdings nicht gesagt, ob das dann noch mit der Flüchtlingskonvention in Einklang gebracht werden muss. Oder wo diese Insel ist.

SPIEGEL: Das wäre dann ganz Griechenland, inklusive des Festlands.

Knaus: Ja. Die EU würde darauf setzen, dass die Bedingungen in Griechenland so schlecht wären, dass die Leute aus eigenem Interesse in der Türkei oder in Afghanistan blieben. Um das zu verstärken, würden noch die Grenzen auf dem Balkan militarisiert. Statt der Türkei ist die EU dann von Mazedonien und Serbien abhängig. Diese Entwicklung wird eintreten, wenn man sich vom EU-Türkei-Plan verabschieden sollte. Die Belastungen wären nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa immens und in ihren Konsequenzen unüberschaubar.

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