Lydia’s vision – Czernowitz, Ukraine, 1994-2014 (in German)


Universität Czernowitz 1994

Es sollte eigentlich ans baltische Meer gehen, doch dann sperrte die Fakultät in Riga kurzfristig ihre Tore. Wie wäre es mit der Ukraine, wurde ich gefragt: auch hier suchte man 1993, kurz nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, junge Leute mit Interesse daran, einer post-sowjetischen Generation westliche Wirtschaftslehre nahezubringen. So landete ich im Sommer 1993 in Czernowitz, im Grenzgebiet zu Rumänien und Moldau, Hauptstadt der nördlichen Bukowina.

Ich hielt Vorlesungen zur Volkswirtschaft und international political economy, vor dem Hintergrund von Hyperinflation und dem Zusammenbruch aller Strukturen. Und ich entdeckte dabei ein mir bis dahin vollkommen unbekanntes Land.

Da war die Armut, das Gefühl von Isolation gerade eine Tagesreise von Wien entfernt. Der Zusammenbruch von sowjetischer Infrastruktur und Industrie. Ein Jahr lang kein Warmwasser, manchmal tagelang keinen Strom. Die Kopiermaschine, die ich aus Wien mitgebracht hatte, gab ihren Geist auf, nachdem hungrige Mäuse in meinem Schlafzimmer alle Kabel durchgebissen hatten. Im Winter wurde der Unterricht abgesagt, denn die Räume der Universität konnten nicht mehr beheizt werden.


Czernowitz Herrengasse – A young Austrian teaching economics in 1993

Da war die Verzweiflung einer ex-sowjetischen Mittelklasse. Und die Entdeckung der Vergangenheit einer Region, die der Historiker Timothy Snyder als Bloodlands bezeichnete: Mittelosteuropa, das wie keine andere Region im frühen 20. Jahrhundert unter Besatzungen, Vertreibungen, Völkermord und totalitären Regimen gelitten hatte.

An die mitteleuropäische Vergangenheit erinnerte nicht nur die Architektur der Stadt – Universität, Herrengasse, Schlossplatz, Volksgarten – sondern vor allem zwei ältere jüdische Damen, noch in der k. u. k. Monarchie geboren. Zwei Freundinnen, Lydia Harnik und Rosa Zuckermann, die seit Jahrzehnten jeden Tag miteinander telefonierten. Ich besuchte sie mindestens einmal die Woche in ihren Wohnungen. Deutsch war ihre Muttersprache, Europa ihre geistige Heimat. Lydia hatte Mitleid mit der Ukraine, diesem “armen geschundenen Land”. Von ihrer Rente konnte sie nicht leben, und so unterrichtete sie weiterhin Sprachen; Französisch und Deutsch, in ihrer winzigen Wohnung neben dem Volksgarten. An der Wand das Portrait von Thomas Mann, im Regal die Romane der russischen Schriftsteller, die sie verehrte. Sie liebte die russische Literatur  ebenso sehr wie die deutsche.

Beide hatten im zweiten Weltkrieg Angehörige in faschistischen Lagern verloren. Beide waren selbst nach Transnistrien verschleppt worden. Rosa und Lydia erinnerten sich allerdings auch an ein Europa mit offenen Grenzen, so wie jenes, in dem es einst ihren Eltern möglich war, bis zum Ersten Weltkrieg ohne großen Aufwand von Czernowitz nach Wien zu reisen. Damals war hier die östlichste Universtät des Habsburgerreiches, und ein junger Ökonom war damals ebenfalls auf die Idee gekommen es doch zunächst einmal in der Provinz zu versuchen (Joseph Schumpeter). Diese Zeit lag fern, die Bevölkerung jener Stadt war vertrieben oder ermordet. Lydia hoffte dennoch dass nun, mit dem Ende des Kommunismus’ und der Sowjetunion, eines Tages auch die Ukraine zu einem neuen freien, demokratischen Europa gehören würde.


Rosa Zuckermann, mentor in Czernowitz

Und so hatte jede Generation hier Erinnerungen an den Fall von grossen Reichen. Melancholie lag auf der Stadt. Die Industrie war zusammengebrochen. Der grosse jüdische Friedhof der Stadt oberhalb des Prut war überwachsen. In der Stadt kannte damals kaum jemand Westeuropa – kaum jemand konnte reisen. Wir befanden uns dabei weniger als eine Stunde Fahrt von der rumänischen Grenze entfernt, doch Rumänien zählte damals noch nicht zu Europa. Zu absurd die Grenze, zu arm das Land dahinter.

Zwei Jahrzehnte sind seit damals vergangen. Ich besuchte Lydia noch einmal kurz vor ihrem Tod mit meiner zukünftigen Frau – Lydia hatte mir zur Hochzeit geraten,  sie war die erste Person, der wir von einer Telefonzelle vom Hauptbahnhof in Rom aus nach dem Heiratsbeschluss von unseren Plänen erzählten. Unsere Tochter heißt, nach ihr, Fanny Lydia.

Rosa besuchte ich später auch zu ihrem neuzigsten Geburtstag, eine 28 stündige Zugreise war dazu notwendig, aus Wien mit Umsteigen in Lemberg.  Sie kam zu jener Zeit durch einen wunderbaren Film – Herr Zwilling und Frau Zuckermann – in ihren letzten Lebensjahren zu einer gewissen Bekanntheit in Deutschland. Das amusierte sie sehr. Ich hatte sie und Herr Zwilling oft in ihrem kleinen Haus in der Klara Zetkin Straße besucht und tatsächlich sehe ich sie heute noch, winkend von ihrem Balkon beim Verabschieden, nach außen fröhlich und resolut, im Inneren melancholisch und besorgt.


Herr Zwilling und Frau Zuckermann (Filmtrailer)

Mittlerweile sind Lydia und Rosa beide auf dem überwachsenen jüdischen Friedhof von Czernowitz bestattet. Europa hat sich seit jenen Jahren dramatisch verändert.

Nicht nur Österreich, auch Polen und Rumänien sind der Europäischen Union beigetreten. Wer heute aus der Ukraine nach Polen blickt, kann die Veränderung dort oft kaum fassen. Ein Europa der offenen Grenzen, ohne politische Gefangene, kein Abholen von Kritikern des Nachts durch die Geheimpolizei, ohne Angst vor Kriegen, Revolutionen oder neuen Vertreibungen. Dieses Europa ist heute weniger als eine Stunde Fahrt von Czernowitz entfernt an der rumänischen Grenze, die zur Grenze der Europäischen Union geworden ist. Und doch hat sich eines nicht geändert: die Ukraine gehört weiterhin nicht dazu.

Die politische Hoffnung der beiden jüdischen Freundinnen, eine europäische, demokratische Ukraine, sie ist bislang nicht in Erfüllung gegangen.

Will man verstehen warum im November 2013 erst Tausende, dann Zehntausende Menschen aller sozialen Gruppen und Generationen in Kiew auf die Straße gingen, um mit europäischen Fahnen in der Hand für ein Assoziationsabkommen zu demonstrieren, das kaum einer von ihnen im Detail gelesen haben dürfte, dann muss man sich die Verschiebungen der politischen Grenzen in Europa vor Augen halten. Ich vermute es gab nicht viele Ukrainer, die davon motiviert waren sich von Russland abzugrenzen, ein Nachbar der hier – auch bei Rosa und Lydia – viel weniger als Bedrohung empfunden wurde als in den meisten Ländern Mitteleuropas. Daher gab es auch in Umfragen bis zu den Protesten nie Mehrheiten für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, ganz anders als in Polen, dem Baltikum oder Georgien.

Was es gab, vor allem bei der jungen Generation, war ein wachsender Konsens darüber, dass die Ukraine sich nicht noch einmal zwei Jahrzehnte auf der Suche nach einem Sonderweg leisten konnte. Die Plünderwirtschaft großer Oligarchen, ein von Korruption zersetztes politisches System, eine Gesellschaft ohne Perspektiven, das Gefühl, vor verschlossenen Grenzen zu stehen … all das trieb viele einer Generation, die zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion oft noch gar nicht geboren war, auf die Straße. Auch die Enttäuschung über das Versagen der letzten Proteste, der Orangenen Revolution 2004.

Als ich im Winter 2013 nach Kiew kam, bemerkte ich bei jungen ukrainischen Studenten großes Interesse an den Erfahrungen ihrer westlichen Nachbarn, Interesse selbst für die arme, kleine Republik Moldau, die die Ukraine auf dem Weg zum Erlangen der begehrten Visafreiheit für Schengen-Staaten überholt hatte. Und auch Angst, dass die Ukraine erneut den Anschluss zu verlieren drohte. Als schließlich Ende des Jahres auf russischen Druck hin ein schon zu diesem Zeitpunkt enorm unbeliebter, weil korrupter Präsident das Assoziationsabkommen mit der EU verweigerte, schien eine weitere Hoffnung auf ein irgendwann besseres Leben zu schwinden.

Tatsächlich waren die meisten der Demonstranten auf dem Maidan vor allem für eine andere Ukraine, eine europäische, ähnlich dem heutigen Litauen oder Polen, auf die Strasse gegangen (Von westukrainischen extremen Nationalisten, die niemals die Mehrheit stellten, einmal abgesehen). Was war auch die alternative Vision der Herren im Kreml, und ihrer ukrainischen Verbündeten? Warnungen vor einem dekadenten Westen, der ehrbaren Slawen die Homosexuellenehe aufzwingen wollte? Zumindest in dieser Frage stimmten Putin und ukrainische Nationalisten überein.

Der Kreml verhöhnte die EU, von der politischen Klasse in Moskau schon lange als impotent, künstliches Konstrukt, machtlos, dekadent, abgeschrieben. Doch bot Russland selbst keine Hoffnung. Mit einer Wirtschaft, deren wertvolle Rohstoffe Europa zwar auf dem Weg durch die Ukraine erreichten, deren Nutznießer ihren Reichtum dann allerdings sofort nach London, Paris, Wien oder Nikosia überwiesen. Dieser im westlichen Europa gelagerte Reichtum ist heute die Achillesverse, aber auch ein Machtinstrument des Kremls. Denn nun, nach der Besetzung der Krim, nach Ultimaten, Drohungen mit Einmarsch und Krieg und der Verletzung aller eingegangenen internationalen Verpflichtungen, die Souveränität der Ukraine zu respektieren, sind es auch wirtschaftliche Interessen, russische Milliarden, die Europa davon abhalten, auf das russische Verhalten entsprechend zu reagieren. Und das hieße: Druck auch auf die persönlichen Interessen der Herren im Kreml. Die von einer Wiederherstellung eines eurasischen Großreiches träumen, ihre Reichtum und ihre Familien aber in London oder Paris vor einem räuberischen Staat in Sicherheit bringen.

So kommt es heute in der Ukraine zu einem Aufeinandertreffen zweier Visionen. Da Herrscher, die unbeliebte Grenzen unter vorgeschobenen Argumenten mit Gewalt neu ziehen. Dort die Erfahrung von Integration und offenen Grenzen. Es geht um die Frage was die Werte der Europäischen Menschenrechtskonvention, später auch von Russland bei seinem Beitritt in den Europarat akzeptiert, heutigen Demokratien noch wert sind. Die heutige russische Elite fürchte – trotz ihrer Rhetorik – weniger die NATO als die Möglichkeit den eigenen Reichtum zu riskieren. Oder fürchtet gerade dies eben auch nicht: denn nicht nur ehemalige deutsche Bundeskanzler sind heute auf der Gehaltsliste kremlnaher Betriebe, sondern auch internationale Organisationen, wie der ebengenannte Europarat, wurden in den letzten Jahren von den Autokratien des Ostens unterwandert.

Dass es bei der Bewahrung dieser Werte letztlich um Zivilisation geht, um Sicherheit nicht nur für Ukrainer sondern für ganz Europa; das hätten Lydia Harnik und Rosa Zuckermann jedem jungen Europäer glaubwürdig dargelegt.