Blind in den Sturm – wie die Europäische Kommission in Griechenland versagt (in German)

Forschung in Lesbos - hier im Rathaus
Forschung in Lesbos – hier im Rathaus

Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27 September 2016 (Brüssel: Vertrag mit Türkei bewährt sich, FAZ, Seite 2, Dienstag) zeigt zweierlei: die Europäische Kommission erkennt nicht, was notwendig ist, um das EU-Türkei Abkommen umzusetzen. Sie versäumt es, Politiker und die Öffentlichkeit aufzurütteln. Stattdessen verschleiert sie Probleme. Das ist unverantwortlich und gefährlich. Wenn nichts passiert, könnte das Abkommen in den nächsten Wochen in sich zusammenbrechen. In diesem kurzen Überblick stehen die Aussagen der Kommission, die in dem Artikel zitiert werden, den tatsächlichen Entwicklungen gegenüber. Ein aufmerksamer Leser kann von selbst erkennen, dass hier vieles nicht zusammenpasst:

Die Zahl der Flüchtlinge, die in der Ägäis ankommen

Der Artikel beginnt optimistisch:

„Das vor sechs Monaten zwischen der EU und der Türkei vereinbarte Flüchtlingsabkommen scheint sich insgesamt zu bewähren. Zu dieser positiven Einschätzung ist die Europäische Kommission in einer Bilanz gelangt. ‚Ich habe keine großen Befürchtungen, dass das Abkommen zwischen der EU und der Türkei scheitert. Es steht für beide Seiten zu viel auf dem Spiel’, sagte ein mit dem Dossier betrauter Beamter am Montag.“

Dafür bietet der ungenannte Beamte folgende Argumente:

„Die Zahl der über die Ägäis aus der Türkei auf die griechischen Inseln gelangenden Flüchtlinge sei mit zuletzt durchschnittlich hundert am Tag auf einem ‚historisch niedrigen Stand’.“

Ankunft von Flüchtlingen aus der Türkei auf griechischen Inseln (2016)[1]

Datum Ankommende Flüchtlinge
Täglicher Durchschnitt Januar 1,932
Täglicher Durchschnitt Februar 1,904
Täglicher Durchschnitt 1-20 März 1,148
Täglicher Durchschnitt 21-31 März 333
Täglicher Durchschnitt April 121
Täglicher Durchschnitt Mai 55
Täglicher Durchschnitt Juni 51
Täglicher Durchschnitt Juli 59
Täglicher Durchschnitt August 111

 

Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge lag im August bei durchschnittlich 111 am Tag. Das sind doppelt so viel wie im Mai oder Juni. Dieser Trend ist besorgniserregend. Es ist auch kein „historisch niedriger Stand“: auf ein Jahr umgelegt bedeuten 111 Ankommende am Tag insgesamt etwa 40,000 Ankommende im Jahr.

Um das einzuordnen hilft es, sich die Gesamtzahl ALLER, die die EU Außengrenzen in den letzten Jahren überquert haben, vor Augen zu halten: das waren von 2009 bis 2013 jährlich durchschnittlich 110,000 an ALLEN EU Außengrenzen. 40,000 im Jahr nur in der Ägäis wären eine historisch hohe Zahl, die nur verglichen mit dem Ausnahmejahr 2015 (als über 800,000 ankamen) „niedrig“ erscheinen mag. Dass der negative Trend der letzten Wochen nicht einmal erwähnt wird ist auch merkwürdig.

 

Die Zahl jener, die von den Inseln in die Türkei zurückgeschickt werden

„Positiv wird in der Kommission herausgestellt, dass seit Inkrafttreten des Abkommens von den griechischen Inseln bis zum Montag insgesamt 578 Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt worden seien. Allein am Montag brachte ein Schiff 70 Migranten von der Insel Lesbos in die Türkei Dikili zurück.“

Das bedeutet, dass seit Inkrafttreten des Abkommens im Durchschnitt pro Monat weniger als 100 Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt wurden – weniger als derzeit täglich auf den Inseln ankommen.

Was die Kommission nicht erklärt, ist erneut der tatsächliche Trend. Der sieht nämlich so aus: auch im September wurden insgesamt nur 90 Leute zurückgebracht. Im August waren es 16, im Juli niemand, im Juni 21 und im Mai 55. Die allermeisten wurden zu Beginn des Abkommens, im April (386), zurückgebracht. In der ersten Oktoberwoche ist noch einmal ein Transfer von 75 Menschen geplant. Doch danach ist es wieder unklar aus wie es weitergeht. Von einer Trendwende kann derzeit keine Rede sein.

Transfer von Migranten aus Griechenland in die Türkei bis 27 September 2016[2]

Date Transfers
4 April 202
8 April 123
26 April 49
27 April 12
18 May 4
20 May 51
8 June 8
9 June 13
16 June 6
17 August 8
18 August 6
25 August 2
7 September 5
8 September 13
23 September 7
26 September 70
Total 579
   

 

Die Kommission erklärt übrigens selbst, warum es auch in den nächsten Monaten nur sehr wenige Rückführungen geben wird:

„Derzeit gibt es mit jeweils drei Mitgliedern besetzte Berufungsgremien, die derzeit monatlich nur 200 Fälle zum Abschluss bringen können Zur Bewältigung dieses ‚Flaschenhalses’ müssten die Verfahren gestrafft, mehr Personal müsse eingestellt werden. Ziel sei es, die Dauer des Prüfverfahrens auf zwei bis drei Wochen zu begrenzen.”

Das bedeutet: egal wie viele Fälle die Asylbehörde in erster Instanz derzeit bearbeitet (und es sind nicht viele – siehe weiter unten), die erwartete Zahl derjenigen, die von der zweiten Instanz monatlich „zum Abschluss“ gebracht wird, liegt bei „nur 200“ … und das bedeutet noch nicht, dass alle 200 auch in die Türkei zurückgebracht werden.

Derzeit gibt es noch keine Erfahrung mit den Berufungsgremien, aber selbst wenn ALLE 200 Fälle pro Monat in einem Rückführungsentscheid in die Türkei enden, wären das weniger als derzeit in ZWEI TAGEN auf die Inseln kommen.

Die kleine griechische Asylbehörde ist der Aufgabe auf den Inseln nicht gewachsen.

„In der EU-Behörde wird zudem erwartet, dass auch die Zahl der ‚Rückführungen’ von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei in Kürze deutlich zunehmen wird. Inzwischen sei in Griechenland über die Zulässigkeit von rund 3500 Asylanträgen – davon gut 3000 von syrischen Flüchtlingen – entschieden worden. Dies entspricht der im März gegebenen Zusage, Asylanträge im Schnellverfahren zu prüfen.“

Doch selbst wenn 3,500 Anträge in sechs Monaten entschieden wurden, dann sind das weniger als 600 im Monat. Derzeit kommen PRO WOCHE mehr Flüchtlinge und Migranten auf den Inseln an.

Man kann es drehen wie man will: sechs Monate nach Inkrafttreten des Abkommens haben weder die erste Instanz der Asylbehörde, noch die Berufungskommissionen, noch die – immer noch dramatisch unterbesetzte – EASO Mission auch nur ansatzweise die Ressourcen, die notwendig wären zu verhindern, dass die Schere zwischen der Zahl der Ankommenden und der Zahl der in die Türkei zurückgeführten nicht weiter aufgeht.

Die letzte der zitierten Aussagen der Kommission wirkt vor diesem Hintergrund bemerkenswert:

„Günstig habe sich zuletzt die Versorgungslage für die Flüchtlinge entwickelt.“

Dass sich die „Versorgungslage“ auf den Inseln günstig entwickelt haben soll, nachdem das wichtigste Lager Moria auf Lesbos erst vor kurzem brannte, während die Differenz zwischen Bedarf und Resourcen immer grösser wird, und obwohl Proteste der Bevölkerung auf den Inseln immer mehr zunehmen, ist schwer zu glauben. Es widerspricht auch dem, was Journalisten und Menschenrechtsorganisationen von den Inseln berichten. Abgesehen davon ist jedem Laien klar was es bedeutet, wenn

  • sich heute doppelt so viele Menschen auf den Inseln befinden als Kapazitäten vorhanden sind, sie gut zu versorgen (UNHCR);
  • jeden Tag so viele Menschen auf den Inseln ankommen wie durchschnittlich im Monat in die Türkei gebracht werden;
  • der Trend zeigt, dass die Zahl der Ankommenden steigt, die Effizienz der Behörden aber seit Monaten stagniert.

All das wirft die Frage auf: Wie kann eine Organisation, die bestehende Probleme und alarmierende Trends nicht wahrnimmt, diese Probleme lösen? Und was macht die Europäische Kommission, wenn in wenigen Wochen die griechischen Behörden das Handtuch werfen müssen und tausende von den Inseln wegbringen, und damit den Schlepper in der Türkei signalisieren, dass das ganze Abkommen einzustürzen beginnt?

 

Kapazität und Auslastung in den Lagern auf den griechischen Inseln, 13. September 2016[3]

 

Island Kapazität Auslastung
Lesvos 3,500 5,660
Chios 1,100 3,598
Kos 1,000 1,540
Samos 850 1,425
Leros 1,000 702
Rhodes 136
Karpathos 71
Kalymnos 24
Megisti 14
Total 7,450 13,171

 

 PS: Was tatsächlich – schnell – passieren müsste hat ESI erst vor kurzem in diesem Papier beschrieben: Background paper: On solid ground? Eleven facts about the EU-Turkey Agreement (12 September 2016)

Wir haben unsere Vorschläge auch in vielen Gesprächen, in internationalen Medien oder bei Veranstaltungen in Den Haag, Amsterdam, Stockholm, Wien und Berlin erkläutert:

Flüchtlinge auf Lesbos
Flüchtlinge auf Lesbos

 

[1]             Source: UNHCR (Weekly report, 4 August 2016)

[2]             Source: European Commission

[3]             Source: UNHCR

Fragility – autumn in a garden in Moscow (one year later)

A few thoughts, written one year ago in autumn in the sunny garden of the Museum of Modern Art in Moscow, where I was then a visiting fellow.

The dark clouds of that moment – the sense of fragility of our institutions and norms and moral emotions – are very much more obvious today. Then was the moment of Willkommenskultur in Germany and Austria, a generous, emotional, fragile sense of possibility, that was real – perhaps my forebodings came from observing it from Russia, with sympathy and concern.

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27 September 2015 (Facebook)

(Sonntag, im Garten des Museums für Moderne Kunst in Moskau)

Wir sollte uns keinen Illusionen hingeben.

Das Recht auf Asyl – all die Konventionen, auf die wir uns heute noch berufen können, in Kommentaren oder vor Gerichten – verschwindet in dem Moment, in dem Mehrheiten das wollen. Oder in dem die Minderheiten, die das wollen strategischer vorgehen als die Verteidiger der Menschenrechte.

Das hat Orban gerade wieder gezeigt, unbestraft; seine “Asylverfahren” an der Grenze sind eine Farce, doch seine Zustimmung steigt.

Das zeigen uns seit Jahren andere Mitglieder des Europarates. Azerbaijan war Vorsitzender des Europarates, verhaftete alle Menschenrechtsaktivisten … wo war die Reaktion? (jenseits der Menschenrechtsorganisationen, die das Regime einfach ignoriert). Wo war der Europäische Menschenrechtsgerichtshof? Abgemeldet, vom Regime ignoriert, vollkommen ungestraft. Heute, wo wir ihn brauchen, ist der Europarat eine unglaubwürdige Institution. Wir haben diese Entwicklung ignoriert, weil viele dachten, das betrifft nur Autokraten im fernen Osten Europas. Das war ein großer Fehler. Einer von vielen der die Menschenrechte in Europa in Gefahr bringt.

Jede, auch die grundlegendste, Menschenrechtsnorm, ist ständig in Gefahr sich im Nichts aufzulösen, wenn der Rückhalt schwindet. (Die Folter wurde in Russland Anfang der 19 Jahrhunderts von einem russischen Zaren abgeschafft; wir wissen was später passierte …).

Orban weiß das: er hat das Ende des Kommunismus, mit allen seinen Normen, erlebt. Er weiß, dass alles Menschliche vergänglich ist. Nun erwartet er, dass dies auch für das europäische Bekenntnis zu Asyl gilt, wenn er nur die Angst vor Muslimen instrumentalisieren kann.

Wenn die Briten über einen Austritt aus dem Menschenrechtsgerichtshof laut nachdenken, ja, eine Regierungspartei damit Wahlkampf macht, und gewinnt, warum dann nicht Ungarn? Warum nicht Österreich, unter einem Bundeskanzler Strache? Was bleibt dann? Wenn mehr Regierungen wie Orban denken, wer verteidigt dann “europäische” Standards? Diese werden dann einfach umdefiniert. Darauf setzt er. Daran arbeitet er.

Diese Krise sieht er als eine große Gelegenheit. Und die, die nicht seiner Meinung sind – wie mächtig auch ihre Positionen, ob nun Bundeskanzlerin in Berlin oder Präsident der Kommission in Brüssel – setzen ihm derzeit nichts entgegen: keine Strategie, nur Hilflosigkeit. Oder Ärger. Das aber stört ihn nicht; im Gegenteil.

Die Situation ist brandgefährlich. Das “Ende der Scham”, der Moment in dem Menschenrechte grundsätzlich in Frage gestellt werden, sinnentleert werden, umdefiniert werden, betrifft längst nicht nur Azerbaijan oder Russland.

Das Fundament auf dem unsere Grundrechte stehen kann zerbrechen. Das ist schon oft geschehen in der europäischen Geschichte. Darum geht es in diesem Ringen heute.

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Journal of Democracy, Gerald Knaus, “Europe and Azerbaijan: The End of Shame” (July 2015)

Spiegel Interview on Turkey (in German) – Gerald Knaus September 2016

“Totales Misstrauen”

Interview Gerald Knaus für Der Spiegel

Das Interview ist hier: Spiegel Spezial “Brennpunkt Türkei” – 1/2016

Ausschnitt:

Spiegel: Die Türkei ist extrem enttäuscht darüber, dass kein europäischer Spitzenpolitiker das Land nach dem Putschversuch Mitte Juli besucht hat.  Zurecht?

Knaus: Ja. Wenn der deutsche oder der französische oder der italienische Außenminister, am besten alle drei gemeinsam, in den Tagen nach dem Putsch gekommen wären, das Parlament besucht hätten, ins Spital gegangen wären, etwa den türkischen Botschafter in Deutschland, Avni Karslıoğlu, der ja von den Putschisten verletzt wurde, besucht hätten – dann wäre das ein wichtiges Signal der Unterstützung für die Demokratie gewesen. Dann wären auch Ratschläge, bei der Bewältigung der Putschfolgen nicht über das Ziel hinauszuschießen, heute glaubwürdiger. Das Misstrauen der Türkei, das es schon nach der schwachen europäischen Reaktion auf den Militärputsch in Ägypten gab, hat sich durch die Abwesenheit von hochrangigen Besuchern aus Europa noch verstärkt. Und viele Türken in allen politischen Lagern vermuten, das Ausland habe entweder auf den Erfolg der Putschisten gehofft, oder sie vielleicht sogar unterstützt. Da dies bei Putschen in der Vergangenheit – 1960, 1980 – tatsächlich der Fall war, fallen solche Theorien in der Türkei auf fruchtbaren Boden.

SPIEGEL: Was sollte Europa jetzt tun?

Knaus: Die EU sollte unbedingt an der Position festhalten, dass eine rechtsstaatliche Türkei ein sehr wichtiger Partner wäre. Sie sollte aber auch klare rote Linie ziehen die für alle Beitrittskandidaten gelten – das hat Brüssel bei der Todesstrafe gemacht, und es sollte auch für systematische Folter gelten, die man in keinem Europaratsmitglied tolerieren darf. Wir sollten nicht sagen, es ist hoffnungslos, wir geben auf, oder uns gar der Illusion hingeben, man könnte a la Trump, auf dem Balkan eine Mauer bauen und hinter der fänden in der Türkei dann Dinge statt, um die man sich nicht kümmern müsste. Gleichzeitig kann man den Beitrittsprozess, so wie er jetzt strukturiert ist, auch nicht einfach weiterführen ohne Änderungen. Verhandlungskapitel öffnen, ohne dass irgendetwas passiert, nährt nur Zynismus, in der EU und in der Türkei.  Die EU müsste den Zustand der Justiz, und konkrete Prozessbeobachtungen, in das Zentrum ihrer Arbeit stellen. Denn was die Türkei am meisten braucht, ist ein Ausweg aus einer Welt des totalen Misstrauens, wo jeder immer nur einen Schritt vom Gefängnis entfernt ist.

SPIEGEL: Der österreichische Bundeskanzler hat den Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert. War das ein Fehler?

Knaus: In diesem Moment auf jeden Fall. Erstens gibt es dafür in der EU keine Unterstützung, aus vielen guten Gründen. Man zweitens sollte man den Menschen in der Türkei, die sich weiterhin für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzen, zeigen, dass die EU nach wie vor daran interessiert ist was dort passiert.

SPIEGEL: Kann das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei angesichts der politischen Krise noch aufrechterhalten werden?

Knaus: Es gibt in Ankara weiterhin den Willen, daran festzuhalten, allerdings ist es schwieriger geworden, für beide Seiten. In der Türkei fragt man sich, wie die EU in dieser Situation eine Veränderung des Antiterrorgesetzes fordern kann. Und in der EU fragt man sich, wie man in dieser Situation die Visa-Freiheit einführen kann. Das wurde leider zu einer Frage der Würde stilisiert, als ob die EU ihre Werte verraten würde, wenn die Türkei nur 70 von 72 Forderungen erfüllt, die die EU am Beginn der Verhandlungen aufstellte. Es geht hier um Verhandlungen, wo beide Seiten Interessen haben. Als Serbien oder  Mazedonien Visafreiheit erhielten stellte die EU nur 45 Bedingungen. Vor allem aber: wem würde es nützen, wenn man jetzt die Visa-Liberalisierung vom Tisch nähme, dann die Türkei das Rücknahmeabkommen aufkündigt und dann das Flüchtlingsabkommen scheitert? Würde das der EU und ihrem Einfluss in der Türkei helfen, oder Menschenrechtsaktivisten dort? Was bedeutet es für Griechenland und Bulgarien? Bei einem Scheitern verlieren alle. Das ist keine kluge Politik.

SPIEGEL: Erdoğan hat mehrmals damit gedroht, das Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen, falls die Visa-Freiheit nicht bis Oktober kommt. Wie glaubhaft ist diese Drohung?

Knaus: Das Problem ist, dass in der EU missverstanden wird, was wir von der Türkei im Gegenzug für die Visaliberalisierung wirklich verlangen sollten. Damit das Flüchtlingsabkommen funktioniert, muss die Türkei zu einem nachweisbar sicheren Drittstaat werden für all jene, die jetzt auf den griechischen Inseln festsitzen. Wir brauchen nicht nur die erklärte Bereitschaft der Türkei, jene zurückzunehmen, die die Griechen schicken. Ankara muss auch klarstellen, dass dort, wo diese Flüchtlinge hingebracht werden, glaubwürdige Asylprozesse mit qualifizierten Asylbeamten, mit Übersetzern und mit transparenten Entscheiden und fairen Bedingungen existieren. Wenn das nicht klappt, wird Griechenland nie einen Asylantragsteller zurückschicken können. Dann verwandelt sich das Abkommen von selbst vom Merkel-Plan in einen Orbán-Plan, wo nur ein Element übrigbliebe, nämlich das unbegrenzte Festhalten von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln. Das ginge aber höchstens noch ein paar Wochen gut. Man braucht Anstrengungen in der Türkei etwas aufzubauen, was auch in manchen EU-Mitgliedsländern nicht existiert, nämlich schnelle und glaubhafte Asylverfahren. Das muss sofort passieren. Man sollte der Türkei durchaus Bedingungen stellen, und diese mit der Visa-Liberalisierung verknüpfen, es müssten nur die richtigen sein.

SPIEGEL: Bislang wurden auch, anders als versprochen, so gut wie keine Flüchtlingen aus der Türkei nach Europa umgesiedelt. Warum nicht?

Knaus: Die EU und die Türkei sollten anerkennen, dass in den letzten Monaten die Zahl der Ankommenden in der Ägäis so stark zurückgegangen ist, dass man mit der freiwilligen Umsiedlung von Flüchtlingen jetzt beginnen müsste. Und dass die erste Phase, in der man das unselige Austauschprogramm hatte, wo für jeden zurückgeschickten Syrer ein Syrer aufgenommen werden sollte, beendet ist. Wenn man allerdings dazu übergehen will, eine größere Zahl von Flüchtlingen umzusiedeln, dann zeigt sich, dass die Verwaltungen auch in den bestorganisierten Ländern gar nicht drauf eingestellt sind. Auch nicht in der Türkei.  

SPIEGEL: Man müsste diese Verwaltungen also erst aufbauen?

Knaus: Genau. Wenn die EU 100 000 Leute oder mehr im nächsten Jahr aus der Türkei umsiedeln will, dann muss das jemand organisieren. Denn man muss die Identität der Leute feststellen, Sicherheitsüberprüfungen machen und glaubwürdig zeigen, dass man bereit ist, die Leute aufzunehmen. Wenn man diesen Apparat nicht aufbaut, dann zeigt man, dass dieses Versprechen nicht ernst gemeint ist. Dabei gibt ja sicherlich zehntausende Flüchtlinge allein in der Türkei, die als Verwandte von bereits in Europa lebenden Asylantragstellern oder Flüchtlingen eine enorme Motivation und auch das Recht haben, einen Weg zu ihren Angehörigen zu finden, der nicht über die Ägäis oder über Schlepper führt.

SPIEGEL: Die griechische Regierung sagt, Europa brauche in der Flüchtlingskrise einen Plan B. Wie könnte der aussehen?

Knaus: Es gibt ja bereits eine Art Plan B, der bei immer mehr europäischen Regierungen auf Sympathie stößt, der allerdings um vieles aufwendiger, unsicherer und teurer wäre als das bestehende Abkommen umzusetzen. Davor warnt auch UNHCR eindringlich. Es ist der alte Plan von Viktor Orbán: eine australische Lösung, die darauf setzt, dass Flüchtlinge die EU zwar erreichen können, aber dann dort festgehalten werden, ähnlich wie das Australien auf der Pazifik-Insel Nauru macht. Der österreichische Aussenminister hat in den vergangenen Wochen immer wieder davon gesprochen, dass man von der australischen Erfahrung lernen könne, er hat allerdings nicht gesagt, ob das dann noch mit der Flüchtlingskonvention in Einklang gebracht werden muss. Oder wo diese Insel ist.

SPIEGEL: Das wäre dann ganz Griechenland, inklusive des Festlands.

Knaus: Ja. Die EU würde darauf setzen, dass die Bedingungen in Griechenland so schlecht wären, dass die Leute aus eigenem Interesse in der Türkei oder in Afghanistan blieben. Um das zu verstärken, würden noch die Grenzen auf dem Balkan militarisiert. Statt der Türkei ist die EU dann von Mazedonien und Serbien abhängig. Diese Entwicklung wird eintreten, wenn man sich vom EU-Türkei-Plan verabschieden sollte. Die Belastungen wären nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa immens und in ihren Konsequenzen unüberschaubar.

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