Ein Fahrplan für die Reisefreiheit
Die Visumspflicht der Europäischen Union für Bürger der Türkei ist Unsinn. Sie sollte endlich fallen
Von Gerald Knaus
Süddeutsche Zeitung, 26. April 2012
Jedes Jahr bemühen sich Hunderttausende Türken um ein Visum, um in die Europäische Union reisen zu können; im Jahr 2010 waren es mehr als 625000. Meist erhalten sie Visa, die zur einmaligen Einreise berechtigen und nur für wenige Tage gültig sind; manchmal wird ihnen die Einreise gänzlich verweigert. In jedem Fall sehen sie sich und ihr Land ungerecht behandelt. Zu Recht.
2008 begann die EU einen Prozess zur Liberalisierung der Visabestimmungen für die Staaten des westlichen Balkans. Diesen Ländern überreichte sie sogenannte Roadmaps, Fahrpläne. Diese definierten eine Reihe von Reformen als Vorleistung für die Reisefreiheit: Fälschungssichere Dokumente und ein besserer Grenzschutz gehörten dazu wie Asylgesetze nach EU-Standards und die Achtung der Menschenrechte. Auch sollte die Zusammenarbeit lokaler Sicherheitsbehörden mit jenen aus den EU-Staaten enger werden, umorganisierte Kriminalität, Menschenschmuggel und illegale Migration besser bekämpfen zu können. Am Ende wurde die Visumpflicht für Mazedonien, Serbien und Montenegro, Albanien und Bosnien aufgehoben. Mit der Türkei jedoch verweigert die EU bislang selbst Gespräche darüber, wie Türken die Einreise zu erleichtern wäre.
Dabei wäre es, folgt man der Logik, höchste Zeit, auch der Türkei eine Roadmap wie vor vier Jahren den Balkanländern zu geben – das Land ist schließlich mit der EU durch eine Zollunion und durch die Beitrittsverhandlungen bereits auf das engste verbunden. An diesem Donnerstag treffen sich die EU-Innenminister in Luxemburg. Sie sollten dort ihre bisherige Visumpolitik gegenüber der Türkei überdenken.
Die derzeitige Politik hat zwei große Schwächen. Zum einen läuft sie den rechtlichen Verpflichtungen der EU zuwider und wird von immer mehr Gerichten in Frage gestellt – vom Europäischen Gerichtshof und in den EU-Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland. Zum anderen verhindert sie eine Sicherheitspartnerschaft im beiderseitigen Interesse.
Beginnen wir mit der Rechtslage. Im August 2011 ordnete das Amtsgericht im oberpfälzischen Cham die sofortige Freilassung eines türkischen Staatsbürgers aus der Haft der Bundespolizei an. Der Betroffene verfügte über kein Visum und war aus Tschechien eingereist, um in Deutschland ein Auto zu kaufen. Das Gericht befand, dass der Betroffene sich auf die Visumfreiheit gemäß der sogenannten Standstill-Klausel berufen könne.
Das Gericht bezog sich auf ein Zusatzprotokoll zum Assoziationsabkommen zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei von 1963. Es besagte, dass “die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen werden”. Der Autokauf des Türken sei eine erweiterte Dienstleistung, urteilten die Richter. Als das Protokoll 1973 in Kraft trat, gab es übrigens in elf der 27 heutigen EU-Mitgliedsstaaten keine Einreisebeschränkungen für Türken, auch nicht in Deutschland. Diese wurden erst 1980 eingeführt, unter Verletzung der Standstill-Klausel.
Im Februar 2009 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die türkischen Lastwagenfahrer Mehmet Soysal und Ibrahim Savatli als Dienstleister kein Visum benötigten, um nach Deutschland einzureisen. Das Münchner und das niederländische Verwaltungsgericht Haarlem stellten 2011 in zwei getrennten Verfahren fest, dass türkische Touristen und Geschäftsleute kein Visum benötigen. Im Januar 2011 sprach das Amtsgericht Hannover einen inhaftierten Türken frei, der ohne Visum eingereist war. Im Juni 2011 kam ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zu dem Schluss, es dürfte durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs endgültig geklärt sein, “dass türkische Staatsangehörige visumfrei in das Bundesgebiet einreisen und sich ohne Aufenthaltstitel dort aufhalten dürfen.”
Solche Entscheidungen häufen sich derzeit vor deutschen und niederländischen Gerichten. Auch Leyla Demirkan, eine türkische Jugendliche, die ihren deutschen Stiefvater und ihre türkische Mutter besuchen wollte, als diese wegen einer Krankenhausbehandlung des Mannes in Stuttgart war, erhielt kein Visum von Deutschland. Ihr Fall, der nun vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt wird, könnte die Visumspflicht bald gänzlich zu Fall bringen.
Experten wissen das, doch in vielen europäischen Innenministerien wird dies lieber verschwiegen. Dort hält man die visafreie Einreise von türkischen Staatsbürgern für ein Sicherheitsrisiko – auf jeden Fall sei sie den Bürgern schwer zu vermitteln. Das sind wenig rationale Argumente, wie überhaupt die derzeitige Politik der EU angesichts der Sicherheitsinteressen Europas irrational ist.
Erst vor kurzem haben die europäischen Innenminister wieder einmal darauf hingewiesen, dass die Sicherung der griechisch-türkischen Grenze eines der größten Probleme der Schengenzone ist. Im vergangenen Jahr wurden dort mehr als 61000 illegale Einwanderer aufgegriffen – vor allem Afghanen, Algerier und Somalier. Und keine Türken. Tatsächlich verlassen inzwischen mehr Türken Deutschland, als Menschen aus der Türkei ins Land kommen. Oft vergessen wird auch, dass das Durchschnittseinkommen in der Türkei über dem aller jener Balkanländer liegt, deren Bürger bereits ohne Visum reisen dürfen.
Die EU braucht keine Visumpflicht für türkische Bürger. Sie braucht stattdessen die enge Zusammenarbeit der Türkei mit der EU-Grenzagentur Frontex, um die illegale Einwanderung nach Griechenland zu stoppen. Würde die Europäische Kommission der Türkei eine Roadmap wie den Staaten des Westbalkans anbieten, wäre dies ein Anreiz für eine solche Zusammenarbeit. Von einem Liberalisierungsprozess mit klaren Vorgaben könnten alle Seiten profitieren. Die angestoßenen Reformen würden auch die Menschenrechtslage in der Türkei verbessern und das Vertrauen zwischen der Türkei und der EU wiederherstellen. Dies ist einem Szenario vorzuziehen, in dem der Europäische Gerichtshof den Mitgliedsstaaten die Aufhebung der Visabeschränkungen schlicht auferlegt.
Es geht um gemeinsame Sicherheitsinteressen und um den Respekt vor bestehendem Recht. Beides ist im Interesse der EU-Innenminister. Und vor allem im Interesse der Bürger Europas.
Gerald Knaus, 41, ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) und leitet das Visa Roadmap Turkey Projekt von ESI und der Stiftung Mercator.
PDF download: Süddeutsche Zeitung, Gerald Knaus, “Ein Fahrplan für die Reisefreiheit” (26 April 2012)